: Der Fall Colonia Dignidad. Zum Umgang bundesdeutscher Außenpolitik und Justiz mit Menschenrechtsverletzungen 1961–2020. Bielefeld 2021 : Transcript – Verlag für Kommunikation, Kultur und soziale Praxis, ISBN 978-3-8376-5871-2 642 S. € 29,00

: Verhaftet und verschwunden. Die deutschen und deutschstämmigen Opfer der argentinischen Militärdiktatur und die Reaktionen in der Bundesrepublik 1976–2016. Frankfurt am Main 2021 : Campus Verlag, ISBN 978-3-593-51333-1 694 S. € 59,00

Rezensiert für H-Soz-Kult von
Frank Bösch, Leibniz-Zentrum für Zeithistorische Forschung Potsdam

2010 entflammte die Studie „Das Amt und die Vergangenheit“ eine Debatte über die personelle Kontinuität im Auswärtigen Amt nach dem Nationalsozialismus. Kaum untersucht wurde, welche Folgen die hohe Personalkontinuität für das außenpolitische Agieren hatte. Der Blick auf den Umgang mit den zahlreichen „rechten“, antikommunistischen Diktaturen bildet eine Möglichkeit, die Verinnerlichung demokratischer Werte im Auswärtigen Amt zu prüfen. Zugleich bildet dies ein Feld für eine neue Debatte und Aufarbeitung: Inwieweit stützten die Bundesregierung und besonders das Auswärtige Amt Diktaturen und Menschenrechtsverletzungen im Globalen Süden?

Die hier besprochenen beiden Dissertationen untersuchen das Handeln westdeutscher Diplomaten im Kontext der Diktaturen in Chile und Argentinien während der 1970er- und 1980er-Jahre. Beide Studien sind mit einem starken moralischen Impetus verfasst. Sie wollen zeigen, in welchem Maße es zu einem Fehlverhalten des Auswärtigen Amts kam. Anhand breiter Archivanalysen erforschen sie spektakuläre Fälle, die seit langem die Medien bewegen: die Colonia Dignidad in Chile beziehungsweise das „Verschwinden“ Deutscher und Deutschstämmiger in Argentinien.

Die Entwicklung der Colonia Dignidad untersuchten bereits zahlreiche Studien.1 Neue und neu abgesicherte Erkenntnisse beschert Jan Stehles an der Freien Universität Berlin entstandene Dissertation durch seinen archivgestützten Fokus auf den außenpolitischen und juristischen Umgang mit der Colonia Dignidad, ebenso durch die Akribie, mit der er einzelnen Verbrechen nachspürt. Die Unterlagen der Bundesregierung sowie Justizakten aus Chile und Deutschland bilden seine wichtigsten Quellen. Stehle gelang es vielfach, eine Akteneinsicht einzuklagen. Dennoch halten das Auswärtige Amt, das Kanzleramt sowie besonders der Bundesnachrichtendienst und die Justiz, wie er kritisiert, weiterhin Dokumente unter Verschluss.

Stehle umkreist die Entwicklung der Colonia Dignidad, die 1961 in Chile von deutschen Auswanderern gegründet wurde, in mehreren Anläufen chronologisch und systematisch. Er verdeutlicht, wie die Grundstruktur der Colonia bereits während der 1950er-Jahre in der Bundesrepublik entstand, wo ihr Leiter Paul Schäfer (1921–2010) als charismatischer religiöser Führer Kinder und Jugendliche um sich sammelte, um sie sexuell zu missbrauchen. Schäfers Jugendheim bei Siegburg systematisierte diese Taten, und der „Umzug“ nach Chile diente vor allem dem Zweck, den Missbrauch ohne Strafverfolgung fortsetzen zu können. Stehle definiert die Colonia deshalb als „kriminelle Gemeinschaft“ und „geschlossene totalitäre Gruppierung“. Er trennt den systematischen sexuellen Missbrauch von Kindern durch Schäfer als „Primärverbrechen“ von „Sekundärverbrechen“ wie Freiheitsberaubung, Gewalt und Folter, die der Machtsicherung und dem Fortbestand der Colonia dienten.

Stehles Studie ist von einem anklagenden Duktus getragen. Dennoch verdeutlicht sie redlich und ohne pauschale Übertreibungen, was wir nach bislang zugänglichen Quellen wissen können, was die Zeitgenossen wussten und was ins Reich der Mutmaßungen gehört. So wusste das Auswärtige Amt seit Anfang der 1960er-Jahre von den Strafermittlungen gegen Schäfer wegen sexuellen Missbrauchs, ließ aber dennoch zu, dass er Minderjährige aus der Bundesrepublik nach Chile brachte. Bei Besuchen lobten deutsche Diplomaten die „Ordnung und Disziplin“ (S. 498), was ihrer Meinung nach derartige Verbrechen unwahrscheinlich machte. Bereits 1966 flohen Jugendliche zur Botschaft, erhielten dort jedoch keine Hilfe. Die Verbrechen der Colonia waren seitdem bekannt, aber ihre Lobby-Arbeit konnte die diplomatischen Vertretungen beruhigen. Für die frühe Phase von Pinochets Diktatur in den Jahren 1973 bis 1979 spricht Stehle sogar von einer offenen Sympathie der Botschaft für die Colonia, obgleich letztere nun auch hunderte Gegner der Diktatur folterte. Stehle geht zudem von einer Beteiligung an rund 100 Tötungen aus. Dennoch übernahm der bundesdeutsche Botschafter Erich Strätling beim Besuch der Colonia 1976 deren Selbstsicht und sah „keine Anhaltspunkte“ für Menschenrechtsverletzungen. Ab 1979 sei es zu einer „schweigenden Duldung“ durch die Botschaft gekommen, bis Hans-Dietrich Genscher 1987/88 eine kritische Auseinandersetzung einleitete. Aber erst der Spielfilm „Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück“ stieß 2015 eine selbstkritische Positionierung des Auswärtigen Amts an.

Nicht minder deutlich zeigt Stehle ein Versagen der deutschen Justiz. Nachdem Amnesty International und der „stern“ 1977 über Folter und Missbrauch berichtet hatten, reichte die Colonia vor einem Bonner Gericht Klage gegen diese Aussagen ein. Trotz zahlreicher Zeugen aus der Colonia zog sich der Prozess 20 Jahre (!) hin, sodass angesichts des schwebenden Verfahrens kritische Medienberichte indirekt untersagt blieben. Alle deutschen Strafermittlungen wurden eingestellt, und keine Staatsanwaltschaft erhob bis heute Anklage gegen die Täter:innen der Colonia. Gegen Schäfer wurde erst 1997 ein Haftbefehl ausgestellt, ohne ihn aktiv suchen zu lassen. Als er 2005 dank journalistischer Recherchen in Argentinien verhaftet wurde, beantragte die deutsche Justiz keine Auslieferung. Seine Mittäter:innen kehrten unbehelligt nach Deutschland zurück. Stehle schließt mit einem Appell, die Ermittlungen zu „Verschwundenen“ aufzunehmen, die Colonia als kriminelle Vereinigung zu behandeln und Entschädigungen zu zahlen.

Jan Stehle hat damit ein fundiert recherchiertes und zugleich äußerst politisches Buch vorgelegt. Dank seiner über 12-jährigen hartnäckigen Recherche ist er ein zentraler Akteur jener Aufarbeitungsgeschichte, die er beschreibt, und dürfte damit selbst in spätere Geschichtsbücher eingehen. Im Alleingang hat er zusammengetragen, wofür Behörden, Kirchen und Unternehmen oft Kommissionen finanzieren. Hilfreich sind die zahlreichen tabellarischen Übersichten, etwa zu Prozessen, Unternehmen oder Rechtspersonen der Colonia. Leider strotzt das Buch von Wiederholungen. Manche Befunde und Beispiele liest man dreimal, und auf eine längere Zusammenfassung folgt wiederum eine kürzere, die später erneut wiederholt wird. Stehles engagierte Auseinandersetzung mit den Verbrechen und dem skandalösen Umgang damit führt zu wissenschaftlichen Schwächen bei der kontextualisierten Erklärung. Welchen Status sexueller Missbrauch in der damaligen Gesellschaft hatte, welche Rolle Menschenrechtsdiskurse spielten oder wie Öffentlichkeit und Diplomatie interagierten, wird kaum genauer reflektiert. Auch eine Interpretation aus der Geschichte des Auswärtigen Amts heraus fehlt.

Nicht weniger Aufmerksamkeit als die Colonia Dignidad fand ab 1976/77 die Verhaftung und Tötung Deutscher in Argentiniens Militärdiktatur. Besonders das „Verschwinden“ und die Ermordung von Elisabeth Käsemann und Klaus Zieschank führten zu breitem öffentlichen Protest in der Bundesrepublik. Generell zeichnete sich Argentiniens antikommunistische Militärdiktatur durch eine besonders starke Brutalität aus. Schätzungen gehen heute von rund 30.000 ermordeten politischen Gegnern in den folgenden sieben Jahren aus; zudem erlitten zahllose Gefangene schwere Folterungen. Die deutschen und deutschstämmigen Opfer förderten die emotionale Anteilnahme und den Protest in der Bundesrepublik. Dass das Auswärtige Amt und besonders der Botschafter Jörg Kastl diese Diktatur dennoch anfangs begrüßten und lange Zeit unterstützten, haben bereits mehrere aktengestützte Studien aufgezeigt.2

Die Kölner Dissertation von Sophia Gerke bestätigt diese Haltung der bundesdeutschen Botschaft in Buenos Aires. Im Zentrum der Analyse steht der Lebensweg von 86 „Verschwundenen“ und 75 Verhafteten mit Bezügen zu Deutschland, über die Gerke eine Kollektivbiographie erstellen möchte. Das verbindet sie mit der Frage, auf welche Weise sich das Auswärtige Amt für diese Menschen einsetzte. Als Quellen verwendet sie deutsche und argentinische Ministeriumsakten, einzelne Familienarchive sowie zahlreiche unveröffentlichte, veröffentlichte und eigene Interviews mit Opfern und deren Angehörigen.

Gerke beschreibt einführend die instabile Lage in Argentinien vor 1976, mit einer hohen Inflationsrate und fast täglichen Attentaten oder Opfern staatlicher Gewalt. Dies führte dazu, dass der Militärputsch auch im westlichen Ausland und besonders beim Auswärtigen Amt zunächst eine gewisse Akzeptanz fand. Gerkes eigentliche Analyse besteht in einer Kategorisierung der deutschen und deutschstämmigen Opfer in einer Kollektivbiographie, etwa nach Herkunft, Bildung und Beruf, Aktivismus und „Verschwinden“. Die Mehrzahl wurde gleich 1976/77 ermordet oder verhaftet. Bemerkenswert ist der hohe Anteil von deutschen Opfern mit jüdischem Hintergrund, immerhin ein Drittel. Weniger überraschend ist, dass die meisten junge Studenten aus Buenos Aires waren, die sich in Elendsvierteln sozial engagiert hatten. Immerhin ein Fünftel waren Arbeiter, ein weiterer Teil kam aus akademischen Haushalten. Nur ganz wenige „deutsche Opfer“ waren in Deutschland aufgewachsen. Nur ein Drittel der betrachteten Opfer sprach noch deutsch, und die meisten sahen sich als Argentinier. Sie seien aber oft nach „deutschen Werten“ erzogen worden, die um Bildung, Arbeit und Fleiß kreisten.

Die Eltern engagierten sich durchweg stark, um ihre Kinder aufzuspüren und zu befreien. Sie wandten sich aber meist erst spät an die deutschen Behörden und die Botschaft, vermutlich aus geringem Vertrauen in diese, gerade bei jüdischen Verfolgten (S. 224). Besonders die Mutter des gleich nach dem Putsch „verschwundenen“ Klaus Zieschank entwickelte ein großes Engagement in der Bundesrepublik und in Argentinien, um ihren Sohn zu retten, etwa indem sie einen Hungerstreik in Bonn organisierte. Analog zu den berühmten Protesten der argentinischen „Madres de Plaza del Mayo“ (der Mütter der Verschwundenen) bildete sich auch ein Kreis von Müttern deutschstämmiger Opfer. Die Autorin stellt die schweren psychischen Folgen der Ereignisse für die Eltern heraus.

Der zweite Teil der Arbeit rekonstruiert die deutschen Reaktionen auf diese Fälle, insbesondere der Bundesregierung. Dabei verdeutlicht Gerke, wie der bundesdeutsche Botschafter Kastl „verschwundenen“ deutschen Staatsangehörigen durchaus nachspürte und in der Hälfte der Fälle zur Freilassung Deutscher beitragen konnte. Kastl bewertete diese jedoch als Einzelfälle, die ohne Wissen der Staatsführung Argentiniens geschehen würden. Stärker als die Studie von Angela Abmeier wirft Gerke dem Botschafter vor, er habe sich bei der „Qualität der Bemühungen“ mehr engagieren können (S. 333) und habe auf das Handeln der Militärführung zu verständnisvoll reagiert. Auch gegenüber Argentinien wurde die deutsche Justiz sehr spät aktiv. Erst in den 2000er-Jahren wurden insgesamt sechs Haftbefehle und Auslieferungsgesuche gegen argentinische Militärs wegen Verbrechen an drei Deutschen gestellt.

Obwohl es sich um eine Dissertation handelt, wirkt Sophia Gerkes Arbeit an vielen Stellen eher wie ein Erinnerungsbuch an die Toten und Verhafteten. Es werden nacheinander unterschiedliche Einzelfälle mit oft sehr langen Zitaten präsentiert, die teilweise ganze Seiten füllen. Die dargestellten Migrationsgeschichten sind durchaus bewegend. Der eher enzyklopädische Ansatz schwächt jedoch die analytische Erkenntnis. Stärker noch als Stehle konzentriert Gerke sich ganz auf ihr Kernthema, den Umgang mit deutschstämmigen Opfern, obgleich diese vielfach keine Bezüge mehr zu Deutschland hatten. Um das Handeln des Auswärtigen Amts sowie der bundesdeutschen Politik und Öffentlichkeit zu erklären, wäre freilich stärker deren Wandel in den 1970er-Jahren herauszuarbeiten.

Beide Bücher zeigen, dass das Auswärtige Amt sogar bei Gewalt gegen Deutsche kaum gegen die Diktaturen eintrat. Der Glaube an „Sicherheit und Ordnung“ und die Pflege (wirtschafts-)politischer Beziehungen erschien den Diplomaten selbst bei der Folter und Tötung von Deutschen wichtiger. Sowohl im chilenischen als auch im argentinischen Fall war es der Protest von Angehörigen, Journalisten und Menschenrechtsgruppen, der das Auswärtige Amt und schließlich auch die Diplomaten vor Ort zum Handeln drängte. Allerdings setzten sie auf eine „stille Diplomatie“, um die politischen und besonders die ökonomischen Beziehungen nicht zu gefährden. Durch die Empörung darüber treten beide Studien als Anwalt der Opfer auf und fordern eine selbstkritische Aufarbeitung im Auswärtigen Amt ein. Es dürften nicht die letzten Veröffentlichungen sein, die dies problematisieren. Das alles zeigt implizit die Grenzen der Demokratisierung und Liberalisierung in den 1970er-Jahren – teils auch lange danach.

Anmerkungen:
1 Vgl. zuletzt etwa: Holle Meding, „Nach Chile, um den Menschen zu helfen…“. Die Anfänge der Colonia Dignidad (1961–1970), Berlin 2019; Horst Rückert, Vom Folterzentrum der Militärdiktatur zum Ferienort. Die Geschichte der „Villa Baviera“ in Chile, Stuttgart 2017; Dieter Maier, Colonia Dignidad. Auf den Spuren eines deutschen Verbrechens in Chile, Stuttgart 2016, 2., aktualisierte Aufl. 2017; Claudio Salinas / Hans Stange, Los amigos del „Dr.“ Schäfer. La complicidad entre el Estado chileno y Colona Dignidad, Santiago 2006; Maria Poblete / Frédéric Ploquin, La colonie du docteur Schaefer. Une secte nazie au pays de Pinochet, Paris 2004.
2 Vgl. besonders: Angela Abmeier, Kalte Krieger am Rio de la Plata? Die beiden deutschen Staaten und die argentinische Militärdiktatur (1976–1983), Düsseldorf 2017; zudem: Philipp Springer, Die Beziehungen zwischen der Bundesrepublik Deutschland und Argentinien 1966–1978. Politische Herausforderungen einer wirtschaftlichen Kooperation, Berlin 2018.